Kennen Sie das? Aus der Flut der Bilder, die wir täglich sehen, tritt manchmal ein einzelnes Foto hervor, das wir erinnern und über das wir mehr wissen wollen. So ging es mir mit der Weihnachtskarte, die uns unser Gundernhäuser Zeitungsträger im Dezember ins Zeitungsrohr steckte. Seit einigen Jahren fertigt Horst Weber jährlich eine neue Grußkarte mit einem historischen lokalen Foto. Zuletzt hatte er, vielleicht weil das Thema so aktuell war, eben dieses Foto gewählt.
Es stammt aus der Bildersammlung des Gundernhäuser Ortschronisten Wilhelm Kraft und wurde 1994 vom Kulturhistorischen Verein Roßdorf im Fotobuch „Roßdorf vormals. Erster Band. Bilder von Roßdorf und Gundernhausen aus der Zeit von 1845 bis 1945“ veröffentlicht. (Das Buch ist als Neuauflage im Museum Roßdorf erhältlich.)
Doch was zeigt das Bild? „Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg. Die deutschen Grenzen im Westen wurden von der Wehrmacht besetzt. Aus den grenznahen Gebieten wurde, wegen der unmittelbaren Kriegsgefahr, die Bevölkerung evakuiert. So kamen im September 1939 viele Flüchtlingstrecks durch Gundernhausen. Das Bild zeigt einen solchen in der Hauptstraße“, schrieben die Autoren und Ortshistoriker dazu. Mehr ließ sich über diesen Treck leider nicht erfahren. Die Namen und die Geschichten der Menschen auf den Fuhrwerken bleiben im Dunkeln.
Manche Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern sich aber noch an die Flüchtlinge, die nach Ende des 2. Weltkriegs zu uns kamen. Diese Fluchtbewegungen und Vertreibungen waren ungleich größer und folgenreicher als die von 1939. Die Menschen, die damals kamen, haben Roßdorf und Gunderhausen nachhaltig verändert. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Sie haben unsere Ortschaften bereichert! Doch auch damals war das Einleben der Neubürger alles andere als einfach (und es wurde ihnen nicht immer leichtgemacht), wie ältere Leute erzählen.
Das Foto und seine Geschichte verweisen zugleich auf einen weiteren wenig beachteten Aspekt der heutigen Fluchtsituation: Die Menschen, die es zeigt, werden heute als „Binnenflüchtlinge“ bezeichnet. Es sind Flüchtlinge oder Vertriebene, die im eigenen Land Schutz suchen. Aktuell gilt: „Mehr als 60 Prozent der etwa 65,3 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, konnten das eigene Land nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR nicht verlassen. Sie werden als sogenannte Internally Displaced People (Binnenflüchtlinge) gezählt. Die meisten Geflüchteten, die Schutz im Ausland finden, bleiben zudem in der Nähe ihrer Heimat. 86 Prozent aller Geflüchteten leben in sogenannten Entwicklungsländern“, schreibt der renommierte Mediendienst Integration.
Sicher, die Zahl der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen und in Deutschland war 2015 stark gestiegen. Die Hauptlast tragen aber die meist viel ärmeren Nachbarländer der Krisenregionen. Alleine der kleine Libanon hatte im Sommer 2016 offiziell zwischen 1,1 und 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Nach manchen Schätzungen sind es sogar 2 Millionen. Damit „wäre bei rund viereinhalb Millionen Einwohnern fast jeder Zweite ein syrischer Flüchtling“, schriebt ZEIT online im Juli 2016.
Susanne Felger, AK Asyl Roßdorf-Gundernhausen